Leipziger Selbsthilfewerkstatt Radsfatz

in der Existenz bedroht

Pressemitteilung

Seit rund neun Jahren reparieren RadfahrerInnen ihre Räder unter fachkundiger Anleitung in der Selbsthilfewerkstatt Radsfatz in der Eisenbahnstraße. Die nichtkommerzielle Werkstatt wird von Ratsuchenden aller Herkünfte und Hintergründe genutzt. Nun steht dieses Stadtteilprojekt vor dem Aus, die zuständige Immobilienverwaltung hat mitgeteilt, dass sie den Mietvertrag für die Räumlichkeiten auflösen will.

Bis Ende Oktober 2022 muss das Radsfatz aus den Räumen in einem Hinterhof der Eisenbahnstraße ausziehen und das ehrenamtliche Team ist nun verzweifelt auf der Suche nach Alternativräumen für den Weiterbetrieb der Werkstatt. Es ist nicht die einzige Initiative, die von diesem aktuellen Gentrifizierungsschub betroffen ist, auch das Japanische Haus, das im Vorderhaus seine Räumlichkeiten hat und der Verein „Trautmann“ müssen bis Jahresende ihre Örtlichkeiten räumen. Der Grund ist schlicht, der Vermieter möchte die Räume für einen höheren Mietzins vermieten und hat einen entsprechenden Interessenten an der Hand.

Das Radfatz benötigt nun zweierlei: mittelfristig einen neuen Raum für Werkstatt und Lager, um die Selbsthilfewerkstatt weiter zu betreiben, kurzfristig einen Lagerraum, in dem das derzeitige Material, das sich auf zwei große Werkstätten im Hinterhaus des Japanischen Hauses verteilt, sicher gelagert werden kann. Zugleich appelliert Radfatz auch an die Politik, Räume für solche freien Initiativen, gerade im Osten der Stadt bereitzustellen, da hier der Modernisierungsdruck auch in Zukunft zu ähnlichen Verdrängungen führen kann. Gerade erst hat sich das Radfatz nach der Pandemie wieder als Anlaufpunkt für FahrradbastlerInnen etablieren können und spricht damit besonders die lokalen Communities an. So sind seit März auch einige ukrainischen Mitstreiter ins Kollektiv hinzugekommen. Sie können sich nun in diesem selbstverwalteten Lern- und Lehrraum einbringen.

Sehr gerne laden wir Sie, liebe MedienvertreterInnen, in unsere Werkstatt ein, um unsere Suche nach geeigneten neuen Räumen zu unterstützen. Kontaktieren Sie dazu gerne Dr. Torben Ibs, unser Ansprechpartner für Medienfragen. Er kann gerne Besuchstermine und Interviews mit den Betroffenen vermitteln.

Geschichte und Vision des Radfatz

Als Heiko, Arndt, Sebi und andere im Jahr 2013 die Selbsthilfewerkstatt gründen, wollen sie eigentlich „nur“ Mobilität ermöglichen. Geschaffen haben sie eine kleine Oase, in der Menschen verschiedenster sozialer und räumlicher Herkünfte zusammenkommen. Heute trägt ein gutes Dutzend Ehrenamtlicher das Radsfatz, indem sie Gäste mit Rat und Tat betreuen, Materialspenden einsammeln, Ersatzteile oder Werkzeug kaufen, Schrott wegfahren, aufräumen oder koordinieren.

Das selbstorganisierte Kollektiv hat nie versucht, öffentliche Fördergelder einzuwerben, weil es sich seine Unabhängigkeit bewahren will, aber auch, weil dankbare Gäste genügend Münzen und Scheine in das Spendenglas werfen. Was reinkommt, reicht für Miete und Nebenkosten, Werkzeug und die wenigen Ersatzteile, die vorrätig gehalten werden. Vor Corona stand das Tor drei bis vier Mal pro Woche zu festen Zeiten offen, häufig konnte man aber auch einfach spontan in den Hinterhof kommen und Hilfe oder Teile bekommen. Im Sommer schraubten manchmal zwanzig oder mehr Personen gleichzeitig im Hof und den Werkstatträumen an ihren Projekten.

Als die Covid-Pandemie das öffentliche Leben zum Stillstand brachte, schloss auch das Radfatz seine Pforten. Für Notfälle wurden Einzelbetreuungen angeboten, später wurden „Öffnungsslots“ eingerichtet, für die man sich anmelden muss, wobei die Frage der Anmeldung mit Wegfall der staatlichen Auflagen immer liberaler gehandhabt wird. Ziel ist es, Kontakte durch die Kontrolle der Anzahl gleichzeitig Anwesenden zu reduzieren, den Werkstattbetrieb aber aufrechtzuerhalten.

Das vornehmlich auf den Sozialraum Eisenbahnstraße orientierte Projekt fördert neben ökologischer Mobilität und Empowerment die freiwillige Stadtteilarbeit und die Integration von Zugewanderten. Es ermutigt Radfahrende, das eigene Fahrzeug zu verstehen, und zu lernen, es selbst zu reparieren – und ihre erworbenen Fertigkeiten an andere weiterzugeben. Menschen, die nicht das Geld haben, sich ein Fahrrad zu kaufen, finden hier alte, gespendete Räder, die sie wieder fit machen. Das Werkstattkollektiv folgt dem Prinzip der Wieder- und Weiterverwendung, weshalb die meisten Ersatzteile, Schrauben etc. von alten Fahrrädern stammen, die zu diesem Zwecke ausgeschlachtet wurden. Nur die gängigsten Verschleißteile werden als Neuteile vorrätig gehalten. Durch Aufbereitung alter Fahrradreste konnte hier im kleinen Maßstab ein Gegenentwurf zur sonst wegwerforientierten Konsumgesellschaft gelebt werden.

Zum Empowerment gehört auch eine vornehmlich Frauen vorbehaltene Öffnungszeit. Hier wird das übliche niedrigschwellige Angebot unterbreitet, sich mit der Technik des eigenen Fahrrades auseinanderzusetzen, aber ohne befürchten zu müssen, mit „Mansplaining“ oder sexistischem Verhalten konfrontiert zu werden.

Neben der gewöhnlichen Fahrradwerkstatt gibt es im Radsfatz auch eine Schweißwerkstatt, in der aus Altmaterial Lastenräder und -anhänger gebaut werden. Erstmals 2013 wurde hier ein Bauworkshop angeboten. Der Selbstbau ermöglicht einerseits Personen mit schmalem Geldbeutel die Anschaffung eines Lastenrades, andererseits stehen die meisten der hier entstehenden Fahrzeuge über die Seite kolara.org der Öffentlichkeit zur Verfügung. Ein Werkstattaktivist formulierte seinen Anspruch mal so: „Ein Lastenrad kostet nicht mehr als 50 Cent.“ Auf die Nachfrage, wofür denn die 50 Cent auszugeben wären, sagte er: „Für den Aufkleber «Ein Auto weniger».“ Angesichts der Kosten für Schweißgas, Strom etc. ist das natürlich metaphorisch zu verstehen, deutet aber die Stoßrichtung an, nichtfossile Mobilität für alle Gesellschaftsschichten zu ermöglichen.

Als nach dem russischen Überfall auf die Ukraine viele Geflüchtete in Leipzig ankamen, war schnell klar, dass diese Fahrräder brauchen – besonders die Kinder. So stampften Aktivisten ein kleines Hilfsprojekt aus dem Boden: Dutzende Spendenräder wurden akquiriert, fahrbereit gemacht und im Radsfatz an Ukraineflüchtlinge aller Altersgruppen verteilt. Die bis dahin dreisprachige Webseite wurde um eine ukrainische Fassung ergänzt.

Zu den schweren Herausforderungen einer Fluchtsituation gehört die Untätigkeit, zu der sich viele am neuen, unbekannten Ort verurteilt sehen. Um dem zu begegnen, ermutigte das Werkstattkollektiv Geflüchtete, sich aktiv in der Werkstatt einzubringen. So ergab sich als unerwarteter Nebeneffekt des Ad-hoc-Projektes die Verstärkung des Teams durch vier UkrainerInnen, die nun gemeinsam mit einem „alten“ Werkstattaktivisten samstags eine Öffnungszeit auf Ukrainisch und Russisch anbieten. Da sich unter UkrainerInnen inzwischen herumgesprochen hat, dass es die Werkstatt gibt, in der sogar ihre Muttersprachen gesprochen werden, erfreut sich auch dieses Angebot regen Zuspruchs.

Die vielen positiven Reaktionen zeigten die Richtigkeit der Maßnahme. Zu den bewegendsten Rückmeldungen gehörte die Nachricht der 57 Jahre alten Juliia, die geschrieben hatte, sie sei 100 kg schwer und begeistert von den sportlichen deutschen Frauen ihres Alters, die sie überall auf Fahrrädern sehe. Sie bat um ein Dreirad, weil sie sich das „normale“ Radfahren nicht zutraute. Im Radsfatz wurde sie mit einem Stadtrad mit besonders tiefem Einstieg ausgestattet und machte erfolgreiche Fahrversuche. Ein paar Tage später schickte sie ein Video, das sie auf dem Rad irgendwo in Leipzig zeigte. Dazu schrieb sie: „Ihr habt ein Wunder bewirkt und mir meine Jugend zurückgegeben! Tausend Dank für alles!“

Nun aber soll mit der Selbsthilfewerkstatt ein weiteres Element der Stadtteilkultur verschwinden, was als Teil eines größeren Gentrifizierungsprozesses im gesamten Quartier gesehen werden muss. Die über das übliche Stadtentwicklungsmaß hinausgehenden Mietpreissteigerungen im Viertel führen zu Verdrängungsprozessen, die mit der Lebenswirklichkeit der dort lebenden Menschen nicht in Einklang zu bringen sind. Und so trifft es nun auch die Selbsthilfewerkstatt: über Agenturen, die genutzte und belebte Flächen Interessenten anbieten, wird ein Preisdruck geschaffen, dem das Radsfatz und andere Projekte nichts entgegensetzen können. Die Projekte wurden in den Entwicklungsprozess nicht einmal einbezogen, die Möglichkeit eines Gegenangebotes wurde ihnen verwehrt und somit auch die Möglichkeit weiter im Stadtteil aktiv zu bleiben. Das Versprechen schneller Gewinnsteigerungen führte dazu, dass Eigentümer, Verwaltung, Makler und dritte Mietinteressenten die Betroffenen im Prozess übergangen haben. So wird letztendlich die jahrelange ehrenamtliche Arbeit sowohl in den Räumen selbst, aber auch der Beitrag der Projekte zur Entwicklung des Stadtteils gnadenlos ausgenutzt.

Kontakt für Presseanfragen: Dr. Torben Ibs; mail: torben.ibs[at]web.de